Erstellt von J. Weigend

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„Die Menschen hatten die Nase voll“ – Zeitzeugen erzählen vom Mauerfall 1989 und dem Leben im geteilten Deutschland

32 Jahre nach dem Mauerfall lud der Freundeskreis der Oscar-Walcker-Schule am 09. November 2021 zu einem spannenden und informativen Abend ein, an welchem Zeitzeugen aus Ost und West auf 40 Jahre im geteilten Deutschland und das Ende eines menschenverachtenden Systems sowie die Wiedervereinigung zurückblickten.

Am Dienstag dem 09.November 2021, genau 32 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ließen vier Zeitzeugen Schüler*innen und Lehrer*innen sowie interessierte Gäste an der Oscar-Walcker-Schule an ihren Erinnerungen an diese Zeit teilhaben. Roger und Annette Knorr wuchsen in Erfurt auf und waren somit Bürger des sozialistischen Systems. Die Eheleute Sabine und Peter Frey aus Mainz freundeten sich 1979 mit den Knorrs an und hatten dadurch einen unverstellten Westblick auf das Leben im Osten. Friedmar Sonntag wuchs zwischen Chemnitz und Zwickau auf und versuchte im Alter von 18 Jahren über die ungarische Grenze in den Westen zu flüchten, was misslang.

Der Freundeskreis der OWS hatte zu diesem Abend geladen, um den Zuhörern einen Einblick in das Leben des geteilten Deutschlands zu geben. Unterstützt von den angehenden Klavierbauern Joshua Fries und Clemens Eger am Klavier eröffnete der Vorsitzende des Freundeskreises, Dr. Jens Bubach, den Abend. Er wies auf den 09. November als in vielerlei Hinsicht geschichtsträchtiges Datum hin und leitete dann zum 09. November 1989 und damit zu dem Thema des Abends über. Die Moderation übernahm Sabine Haveneth, Mitglied der Schulleitung der OWS.

Annette Knorr, Lehrerin an der Oscar-Walcker-Schule, erzählte, dass sie ihre Kindheit als normal und unbeschwert wahrgenommen habe und sie begeisterte Pionierin gewesen sei, bis ihr im Alter von 13 Jahren erste Zweifel am politischen System der DDR gekommen seien, die sich mit wachsendem Alter verstärkt hätten. Auch Friedmar Sonntag gehörte zu denjenigen DDR-Bürgern, die nicht konform dachten und handelten: Er war kein Mitglied der Jugendorganisationen der DDR, was ihm viel Demütigung und Verbote einbrachte, bis er während eines Urlaubs in Ungarn den Entschluss fasste, gemeinsam mit einem Freund über die Grenze in den Westen zu fliehen. Die Flucht misslang, Herr Sonntag wurde zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, bis ihn die BRD 1972 schließlich freikaufte und er letztlich nach Ludwigsburg gelangte.

Peter Frey (Chefredakteur des ZDF) sowie seine Frau Sabine Frey berichteten dagegen über die Ereignisse aus westdeutscher Sicht. Sie pflegten ab 1979 eine Freundschaft zu den Eheleuten Knorr, die entgegen aller Widerstände und Reiseerschwernisse Bestand hatte und die vier bis heute eng miteinander verbindet. Als junger Mann war die DDR für Peter Frey „gefühlt weiter entfernt als Frankreich oder sogar die USA“, erste Eindrücke erhielt er bei Studienfahrten in das deutsch-deutsche Grenzgebiet und in Länder, die zum ehemaligen Ostblock gehörten. Erst durch die Bekanntschaft mir den Knorrs reisten er und seine Frau dann fast jedes Jahr in die DDR. Peter Frey erzählte, wie schwer es ihnen stets gefallen sei, ihre Freunde in einem Land zurück lassen zu müssen, das seine Bürgerinnen und Bürger so massiv unterdrückte, ohne zu wissen, ob dieses unmenschliche diktatorische System jemals ein Ende haben würde.

Besonders emotional schilderten Roger und Annette Knorr den Fall der Mauer und die anschließenden Ereignisse um ihre Reise in den Westen.  Ein „Zustand wie in Trance“ erzählte Annette Knorr, verbunden mit vielen Tränen der Freude. Später sollten sie und ihr Mann erfahren, dass sie und ihre Freundschaft zu den Freys bereits unter Observation durch die Stasi gestanden hatten. In den Akten war von einem „operativen Vorgang“ die Rede, berichtete Roger Knorr und von einer geplanten Verwanzung der Wohnung. Dazu kam es schließlich aber nicht mehr. Auch Herr Sonntag empfand den 09. November als den „Beginn einer neuen Zeit“.

Besonders wichtig war es den Zeitzeugen den Gästen vor Augen zu führen, dass die Kraft zum Sturz des Regimes vom Volk ausging, einer zunächst kleinen kämpferischen Gruppe, der sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger anschlossen, bis schließlich tausende Menschen über Wochen auf die Straßen gingen und mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ Freiheit und das Ende des menschenverachtenden Systems forderten. Durch die Berichterstattung der West-Medien wussten sie, dass sie nicht allein sind. Alle vier Zeitzeugen wiesen auf den unglaublichen Mut der Menschen hin, schließlich hatten der Prager Frühling sowie das Massaker in Peking zuvor gezeigt, wie unerbittlich die sozialistischen Machthaber gegen Widerständler vorgingen. Und dieser Mut war letztlich der endgültige Todesstoß für bis dahin bereits geschwächtes System, das 1989 schließlich zerbrach.

In abschließenden Statements brachten die Zeitzeugen ihre Liebe zur Demokratie zum Ausdruck. Herr Frey empfindet die Ereignisse vom 09. November 1989 noch heute als wichtigstes politische Ereignis seines Lebens, das ein wiedervereintes Deutschland hervorgebracht habe, das hoffentlich die Kraft aufweise weiterhin für Stabilität in Europa zu sorgen. Er brachte auch zum Ausdruck, dass die Geschichte des geteilten Deutschlands gezeigt habe, dass man die Hoffnung nie aufgeben dürfe, dass sich die Dinge zum Guten wenden. Seine Frau Sabine Frey stimmte ihm zu und hob die besondere Beziehung zu den Knorrs hervor, die ihr neben der Knüpfung einer Freundschaft fürs Leben auch einen „Inside-Blick“ in die DDR ermöglicht habe. Friedmar Sonntag wies darauf hin wie kostbar es sei in einer Demokratie zu leben und wie bedeutend ihr Schutz jederzeit Priorität haben müsse. Vor allem vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen sei zum Beispiel die Pressefreiheit ein hohes schützenswertes Gut. Auch drängte Herr Sonntag die Schülerinnen und Schüler sich politisch zu interessieren und zu engagieren. Die Eheleute Knorr finden, dass es kein besseres System als das der Demokratie gebe, auch wenn Demokratie oft weh tue, da sie es erforderlich mache Kompromisse zu schließen und auszuhalten, wie Roger Knorr hervorhob.

Es war ein toller Abend. Ein großer Dank gilt den Zeitzeugen, die einen echten, emotionalen und informativen Blick auf das Leben im geteilten Deutschland ermöglichten, den man so nicht in den Geschichtsbüchern findet und der sicherlich bleibenden Eindruck bei den Zuhörern hinterlassen wird.


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